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Warum Kane & Lynch 2: Dog Days ein essentielles Spiel ist ohne ein gutes zu sein

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Jan Markus Mäuer · 11. Juli 2017

Vorab sei gesagt: Rein von der spielerischen Seite bekommt Kane & Lynch 2 keine Empfehlung von mir. Es ist nicht sonderlich ansehnlich, nicht sehr lang, und kam in einer Zeit raus, wo jedes Spiel „Gears of War mit X“ sein wollte… und dieses „X“ fehlte bei dem Spiel, was einen mit einem absolut generischen Cover-Shooter hinterlässt. Zumindest was eben rein das Gameplay betrifft.

Aber von vorne: Kane & Lynch ist „die andere Serie“ von IO Interactive, dem „Hitman Studio”. Nebst dem wenig erwähnenswerten Mini Ninjas und dem Underdog-Kultspiel Freedom Fighters tatsächlich das Einzige von IO Interactive ohne dem beliebten Mann mit der roten Krawatte und dem Barcode auf der Rückseite der Glatze. Es gibt ausreichend Hinweise, dass die dänischen Entwickler aus der Sache ihr nächstes großes Ding machen wollten. Daraus wurde nichts.

Über den ersten Titel möchte ich nicht allzu viel Worte verlieren, da er mich ehrlich gesagt selber nur beiläufig interessierte. Der beinharte, vom Film Heat inspirierte Co-Op-Titel fiel ebenfalls ins oben erwähnte „Gears of War-Loch“, bekam aus hauptsächlich Gameplay und Technik-basierten Gründen negative Reviews. Es ist heutzutage den meisten eher in Erinnerung für eine Kontroverse seitens Square Enix und Gamespot, nachdem selbige das Spiel prominent beworben hatten und Spielpresse-Legende Jeff Gerstmann feuerten, der in seinem Test den Titel verrissen hatte.

Nichtsdestotrotz bekam der Titel mit Kane & Lynch 2: Dog Days 2010 eine Fortsetzung… und wenn überhaupt, fielen die Reviews noch schlechter aus. Bekannte Kritiker wie Jim Sterling und Ben „Yahtzee“ Croshaw bezeichneten es als das schlechteste Spiel 2010. Eine… interessante… Wertung wenn man bedenkt, dass im selben Jahr All Points Bulletin, Blade Kitten und Tony Hawk: Shred erschienen sind. Aber ich bin weder hier, um über Nuancen der Videospielkritik, noch über die spielerischen Qualitäten von Kane & Lynch 2 zu sprechen.

Dennoch werde ich das Spiel für immer als etwas verteidigen, das man sich angesehen haben sollte, wenn man sich für Storytelling in Videospielen interessiert. (Keine Sorge, das Spiel ist notorisch kurz, also dauert es nicht allzu lange.)

Auch wenn mich die schlechten Reviews doch für die längste Zeit von einem Kauf abschreckte, war ich persönlich schon ab den ersten Ankündigungen von Kane & Lynch 2: Dog Days fasziniert. Der Grund dafür lässt sich am besten mit zwei der Trailer belegen.

 

 

Der erste Grund für die Faszination ist sicherlich der visuelle Stil, der mit seiner „Found Footage“-Ästhetik und Imitation einer sehr schlechten Handykamera-Aufnahme bis heute ziemlich einzigartig ist… einige würden argumentieren aus gutem Grund (Aber hey, ich habe eine Schwäche für Found Footage und Fake-Doku Filme, aber das ist ein anderes Thema). Der andere Grund für mich persönlich war, dass diese beiden Trailer (leider im Gegensatz zu einigen späteren) sehr unangenehm waren, auf eine Weise die man so nicht wirklich in Videospielen sieht. Auf beides gehe ich mehr ein, aber für den Moment sei gesagt, dass beide Elemente es ins Spiel geschafft haben und deren Bedeutung im Kontext der Handlung das ist, warum man Dog Days eine Chance geben sollte.

Im Gegensatz zum ersten Teil ist das Spiel aus der Perspektive von Lynch erzählt, einen gealterten, psychopathischen Killer, der mental instabil und auf Psychopharmaka angewiesen ist, was im ersten Teil eine Unberechenbarkeit in die Handlung brachte. Nach den Ereignissen vom ersten Spiel hat er sich nach Shanghai abgesetzt. Er ist mental etwas stabiler, hat eine Freundin, mit der er zusammenlebt und arbeitet für einen britischen Gangsterboss. Als dieser einen großen Waffendeal plant, der allen beteiligten den Ruhestand bezahlen würden, lädt Lynch seinen alten Partner Kane ein, einen selbstmitleidigen, vernarbten Ex-Söldner, der Erlösung bei seiner entfremdeten Tochter sucht (wer den ersten Teil gespielt hat, weiß dass das ziemlich schlecht für alle Beteiligten läuft).
Vor diesem Job muss Lynch jedoch noch eine Kleinigkeit erledigen und einen Informanten einschüchtern. Das eskaliert jedoch enorm und endet mit einem Feuergefecht, in dem die splitternackte Freundin des Informanten von den beiden versehentlich erschossen wird.
Wie sich kurz darauf herausstellt, ist das tote Mädchen die Tochter eines hochrangigen korrupten Politikers. Und so ist auf einmal die gesamte Unterwelt der Stadt und die Polizei hinter den beiden her und die beiden Gangster müssen sich einen Fluchtweg aus dem Land erkämpfen.
Und es wird noch um einiges schlimmer bevor es besser wird, wie man direkt in den ersten Sekunden des Spiels sieht, das einen kurzen Ausschnitt aus der Mitte des Spiels zeigt. In abrupten Schnitten sieht man Kane & Lynch gefesselt in einem Badezimmer, ihre schwabbeligen nackten Körper überströmt mit Blut und Schweiß während sie vor laufender Handheld-Videokamera mit einem Teppichmesser bearbeitet werden.

Es ist alles in allem, wie erwähnt, ziemlich unangenehm, und der Grund dafür ist allen voran, dass es wenig weiteren Kontext für das was folgt gibt. Kontext ist für die meisten Shooter und anderweitig gewalttätigen Spiele, und eigentlich allen Unterhaltungsmedien, ziemlich wichtig. Moral hat in Fiktion eine andere Wertigkeit, aber es hat einen Wert. Die meisten von uns sind (gehe ich mal einfach so von aus) friedfertige Menschen und dennoch haben die wenigsten von uns Probleme damit mit waffenschwingenden Helden zu sympathisieren. Denn im Endeffekt gibt es meist einen Grund, warum der Held „der Gute“ ist, selbst wenn es in der Realität weitaus komplizierter wäre. Selbst wenn die Protagonisten Diebe, Gangster, Schmuggler oder ähnliches sind, so sind sie dennoch charmanter oder sympathischer als „die Bösen“, die im Verhältnis noch böser sind, weil sie eine Linie zuviel überschreiten, für die moralischen Schwächen der Protagonisten irgendwie verantwortlich sind oder es grundsätzlich aus irgendeinem Grund verdienen, geschlagen oder gar getötet zu werden. Der Untertitel Dog Days erinnert an den Al Pachino Film Dog Day Afternoon (Hundstage), in dem ein Bankraub komplett in die Hose geht und zu einer Geiselnahme eskaliert, aber der Charme und die Charakter-Qualitäten des Protagonisten selbigen zu einer unerwartet gefeierten Mediensensation machen.

Mit Kane & Lynch ist es anders.

Sie sind nicht sympathisch. Sie sind ungepflegte, hässliche, schamlose Menschen. Und sie mögen beide Frauen in ihrem Leben haben, um die sie sich wirklich sorgen, aber nicht nur haben sie keine Skrupel, massenhaft zu töten, egal ob Gangster, Polizisten oder unbeteiligte Zivilisten, ihre Fürsorge für andere in ihrem Leben ist nicht genug, ein gefährliches Leben voll skrupelloser Kriminalität aufzugeben oder wenigstens zu versuchen zu umgehen. Und alles was in der Handlung des Spiels passiert, ist die Schuld der beiden „Helden“. Die Art, wie sie sich verweigern, das Problem ihrer Taten zu erkennen, macht sie verdammenswert. Ohne allzu viel darauf einzugehen, es passieren schlimme Dinge, niemand wandelt sich zum Guten, viele Menschen sterben ohne allzu großen Grund und das Ende des ganzen ist auf eine überraschend treffende Weise frustrierend und fühlt sich kaum nach Genugtuung an.

Es ist Gewalt ohne Verzierungen, aber auch ohne falschen Vorwände. Vielen ist sicherlich der Begriff „ludonarrative Dissonanz“ bekannt, ein Begriff dafür, dass das, was Charaktere sind und sagen oft im Kontrast stehen mit dem was sie unter der Kontrolle des Spielers tun. Egal ob es eine unerfahrene Lara Croft ist, die von ihrem ersten Akt des Tötens sichtlich traumatisiert wird oder der abgebrühte Niko Bellic, der wenig Interesse hat zu seiner kriminellen Vergangenheit zurückzukehren, aber am Ende sind beide Killermaschinen, die skrupellos durch dutzende oder gar hunderte Menschen ballern. Kane & Lynch 2 ist da nicht unbedingt realistischer, aber konsistenter. Nichts an dem was passiert ist nobel.

Die Präsentation und die daraus entstehende Atmosphäre unterstreichen das. Kane & Lynchs Shanghai ist so hässlich wie seine Charaktere. Ein grauer Sumpf aus Slums, verregneten Straßen, und heruntergekommenen, undichten Betonbauten, in denen sich schwarze Müllsäcke in jeder Ecke stapeln oder in von summenden, grellen Neonlampen gefärbten Läden, die wenig seriös daherkommen. Dabei hilft das im Gegensatz zu den meisten anderen technischen Aspekten exzellente Sounddesign, das realistischen Stadtlärm mit einem minimalistisch bedrückenden Musik-Track mischt. Und, natürlich, die Optik.

Wie beschrieben und in den verlinkten Trailern ersichtlich, sieht das Spiel aus, als würde es von jemanden gefilmt werden, der den beiden Protagonisten mit einer schrottigen 0.3-Megapixel-Kamera hinterherrennt (ein Paradoxon, das augenzwinkert direkt und indirekt anerkannt wird). Fluoreszierende Lampen „bluten“ in das farbarme, fischaugenlinsen-gebogenem Bild, der Fokus kommt verzögert, Kontraste sind aggressiv, und während den Schusswechseln wackelt der Bildschirm und verzerrt sich absichtlich zu digitalen Artefakten. Landet man einen Kopfschuss, ist das Bild wie in einer Nachbearbeitung “zensiert”, was technisch gesehen dem Spiel den blutigsten Szenen raubt, aber gleichzeitig in der Vorstellung ein grausameres Bild schafft als es das Spiel hinbekommen könnte.
Man könnte es als zynischen Trick abtun, um von matschigen Texturen und kantiger Levelgeometrie abzulenken, aber es steckt Kalkül hinter dem Look. Karsten Lund, Designer des Spiels, wollte Intensität erzeugen, und Realität erwecken. Nicht Realität in unserer tatsächlichen Wahrnehmung, sondern darin, wie die meisten von uns (im Idealfall) Gewalt wahrnehmen: Gefiltert durch Schnappschüsse von Augenzeugenvideos und geleaktem Beweismaterial im Internet, von denen es seit Erscheinen des Spiels nur noch mehr gibt. Die digitalen Imperfektionen, die Kane & Lynch 2 emuliert vermitteln Realismus. Nicht, weil es echt aussieht, sondern weil das, was man als authentisch wahrnimmt, eine eigene visuelle Sprache der Imperfektionen hat. Widersprüchlich wie es klingen mag, raubt der Stil des Spiels so die Stilisierung von Gewalt. Was man sieht ist weder cool noch stylish, es ist ein lauter, chaotischer Alptraum, der ungeschönte Erinnerungen an Terroranschläge, Polizeigewalt und Massenpanik weckt. Wie auch in anderen Spielen ist man in Kontrolle über die Schusswechsel, aber das, was man sieht, sind nicht die Bilder von aufregenden Gewaltphantasien, sondern die Bilder vom Trauma der Betroffenen.

Das ist es, was Kane & Lynch 2 zu etwas besonderem macht, und seinen spielerischen Mängeln vielleicht sogar auf einer Meta-Ebene Bedeutung geben, auch wenn ich vielleicht dann doch nicht ganz so weit gehen würde.
Das Spiel mag grotesk, eventuell sogar respektlos wirken, aber es zeigt das, was es zeigt niemals als bewundernswert. Es ist schwer, vielleicht sogar unmöglich solche Arten fiktionaler Gewalt als etwas darzustellen, was von niemanden als etwas vielleicht doch aufregendes missverstanden werden könnte (der legendäre französische Filmemacher François Truffaut sagte einst, dass es sowas wie einen „Anti-Kriegsfilm“ nicht geben könne). Aber in der Art wie Kane & Lynch 2 es entzaubert, befreit sich das Spiel von Gegensätzen, mit denen andere, unabhängig von ihrer Intention, zu kämpfen haben. Und das gibt dem Titel mehr Wert als manch anderes Spiel, das objektiv besser scheint.

Dieser Artikel wurde in Reaktion dazu geschrieben, dass zum Zeitpunkt der Veröffentlichung (11. Juli 2017) Kane & Lynch 2: Dog Days für Xbox Gold Besitzer ohne zusätzliche Kosten verfügbar ist. Aber selbst wenn es das nicht mehr ist, ist das Spiel heutzutage sehr günstig zu erwerben.